Figuration der Gründung – Der Diebstahl als Kulturgründungsnarrativ
9. November 2012
Tagung
Der listige, mutige und kluge Dieb ist eine prominente mythische und literarische Figur. Die Diebstahlserzählung gehört zu den zentralen Gründungsmythen, ist aber als solche bisher kaum erforscht: Prometheus stiehlt das Feuer von den Göttern, Hermes versteckt geschickt die Rinder, die er Apollon gestohlen hat. Adam und Eva nehmen sich den ihnen verbotenen Apfel, die Israeliten plündern bei ihrer Flucht aus Ägypten auf Geheiß ihres Gottes das Gold der Ägypter. Der Diebstahl als Mythologem und als philosophische Reflexionsfigur taucht in Literatur, Philosophie und im Mythos historisch in signifikaten Kontexten auf: Es geht um die Begründung von Kultur, um die Darstellung der Zugehörigkeit zu bestimmten Weltbeschreibungen und um individuelle Selbstsetzung im Konflikt mit der das Individuum umgebenden Kultur und Geschichte. Der Diebstahl fremden Gutes verweist dabei auf die immer schon fremden und heteronomen Elemente im Eigenen und auf die Unmöglichkeit eines radikalen, voraussetzungslosen Anfangs.
Hans Blumenberg beschreibt in Höhlenausgänge die Unmöglichkeit holistischer Denksysteme und Weltzugänge, ihren Ursprung zu beschreiben. Erzählungen des Ursprungs sind unfähig, ihr erstes Anfangen beschreiben zu können, da sie der Möglichkeit ihrer Erlebbarkeit „wesensmäßig entzogen sind“. „Kein Bewusstsein“ – so Blumenberg – „kann sich als anfangend erleben.“ Zur philosophischen und wissenschaftlichen Kategorie des Anfangs gehört nicht nur die Geburt, sondern auch die Gründung einer Kultur, die den Augenblick ihrer „Emergenz“ nur in kollektiven Mythen beschreiben kann. Für die Kulturwissenschaft werden so alle Erzählungen über Anfänge, über Schöpfungen, Gründungen und Geburten relevant, weil an diesen „unmöglichen Berichten“ untersucht werden kann, wie sich etwas – sei es eine Kultur, ein Individuum oder ein Diskurs – sein Herkommen selbst erklärt und begründet. Mythische, literarische oder philosophische Erzählungen über Anfänge sind also gewissermaßen Berichte aus dem Unbekannten. Gerade weil dieses Anfangen seiner selbst der Wahrnehmung eo ipso entzogen ist, handelt es sich um eine zugleich narratologische wie kulturtheoretische Fragestellung.
In diesen Kerntexten kultureller und individueller Selbstsetzung durch Diebstahl ist die Überlagerung und die Ambivalenz des autobiografischen und des diskursiven Mythologems der Diebstahlserzählung exemplarisch verarbeitet. Auch in der modernen Literatur ist der Diebstahl als Selbstbegründungshandlung weit verbreitet: Bei Edgar Allan Poes Der entwendete Brief, der in seiner Deutung durch Jacques Lacan und Jacques Derrida einer der ikonischen Texte der Postmoderne ist, bei Robert Musil, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler und Georg Heym treten kluge, listige und erfolgreiche Diebe auf. Das Motiv autobiografischer Selbstbegründung durch einen Diebstahl, die parallel zu einem mythischen Gründungsdiebstahl geschildert wird, erfährt in der Postmoderne eine neue Konjunktur: Jean Genets Tagebuch eines Diebes und Dea Lohers Diebe sind nur zwei Beispiele von vielen. Auch die Figur des listigen Meisterdiebs Arsène Lupin war nicht nur für die französische Literatur von größtem Gewicht.
Die Beobachtung, dass die Diebe nach ihrer Tat oftmals vagabundierend umherziehen und die eigene Einordnung in die Gemeinschaft problematisch geworden ist und sie sich deshalb anhand ihrer Tat, des Diebesgutes oder der Schuld selbst zu identifizieren haben, weist auf die größere Problematik des Konflikts des Individuums mit der sesshaften, bürgerlichen Kultur hin. Erzählungen des Diebstahls sind also nicht nur Berichte über die Gründung von Kulturen und Individuen, sondern immer auch Vorschläge zu einem alternativen Konzept der Kultur und des Individuums.
Teilnehmerinnen und Teilnehmer
- Schamma Schahadat: Gabe – Opfer – Verausgabung: Tadeusz Konwickis Mała apokalipsa – Kleine Apokalypse
- Jens Frederic Elze: Diebstahl, Gabe und Tötung als Begründungsgeste bei Defoe, Smollett und Adiga
- Dorothee Kimmich: Arsène Lupin – Der Gentleman als Dieb
- Hans-Jürgen Kerner: Diebstahl als kulturell signifikantes Kerndelikt: Betrachtungen aus strafrechtsgeschichtlicher und aktueller kriminalrechtlicher Perspektive
- Thomas Kirsch: The Remains of Punishment – Kriminalität und ihre Prävention im heutigen Südafrika
- Hendrik Stoppel: Der Verlust von Tempel und König in Jerusalem als Kristallisationspunkt religiöser Traditionen
- Andreas Gehrlach: Warum Rahel ihrem Vater die Hausgötter stahl – Der Diebstahl als abendländisches Gründungsmythologem
- Irmgard Männlein-Robert: Hermes und die Nachtigall: Zur Medialität hellenistischer Dichtung
- Mirjana Vukovic: Wissensdiskurse über Armut bei deutschsprachigen Autorinnen des Vormärz
Fr–Sa, 9.–10. November 2012, ab 10:30 Uhr
Universität Tübingen, Alte Aula, Münzgasse 22–30 (geänderter Ort)
Kontakt
Prof. Dr. Dorothee Kimmich dorothee.kimmich[at]uni-tuebingen.de
Andreas Gehrlach, M. A. andreas.gehrlach[at]fu-berlin.de
- Dateien:
Programm_Diebstahls-Workshop.pdf1,21 Mi
Abstracts_Diebstahls-Workshop.pdf1,23 Mi